Folge 22: Debütromane: „Über die See“ von Mariette Navarro und „Dieux les Pères“ von Jean-Paul Dumas-Grillet

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Folge 22: Debütromane: „Über die See“ von Mariette Navarro und „Dieux les Pères“ von Jean-Paul Dumas-Grillet
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2012 überquerte die Theaterautorin und Lyrikerin Mariette Navarro gemeinsam mit anderen Autoren und Autorinnen auf einem Containerschiff den Atlantik. Plötzlich keinen Vogelschrei mehr zu hören, das Zeitgefühl zu verlieren und sich nurmehr am Licht, an Helligkeit und Dunkel zu orientieren, beschreibt sie als eine tiefe Erfahrung. Mariette Navarro kam mit Notizen zurück, aber erst als die Figur einer Kapitänin Gestalt in ihrem Kopf annahm, bekam sie Lust, eine Geschichte zu erfinden.
Eine 20-köpfige männliche Crew bittet die Kapitänin, auf hoher See baden zu dürfen. Zu ihrer eigenen Überraschung willigt sie ein und von dem Augenblick an, verändert sich das Leben aller. Fraglich ist, ob die Schwimmenden sich jemals von dem existenziellen Taumel, der sie in tiefem Wasser ergriff, erholen werden? „Selbst wenn man das Meer seit Jahrhunderten besegelt“, so Mariette Navarro, „bleibt es etwas Unbekanntes. Es löst Träume aus, Fantasien und Ängste.“ Und Wünsche. Glaubwürdigkeit ist kein erzählerisches Gebot in diesem wunderbaren, poetisch hochverdichteten Roman.

Jean-Paul Dumas-Grillet ist Fotograf. Galerien und Museen stellen seine Bilder aus, die französische Nationalbibliothek hat Werke für ihre Sammlung angekauft. Immer wieder war er auch bei Filmdreharbeiten beschäftigt. In seinem Debütroman Dieux les Pères erinnert Dumas-Grillet auf spielerische Weise an Kinoszenen, an reale Schauspieler und Regisseure. Die Hauptfigur ist auf der Theaterbühne und am Filmset gescheitert. Übermäßiges Lampenfieber zerstört seine vielversprechende Schauspielerkarriere und die Ehe. Bob Declerq lebt mit seiner kleinen Tochter in einem Pariser Vorort. Der Vollzeitvater hat kaum Geld, der Alltag ist schwierig, bis beide bei einem guten Freund, der ebenfalls mit seiner Tochter lebt, einziehen. Die Rollen sind klar verteilt: Einer schafft das Geld heran, der andere kümmert sich um den Haushalt. Sie gründen „eine Familie der neuen Art, ohne besondere Erwartungen, ohne Eifersucht, ohne sexuelle Ansprüche“. Könnte das Modell scheitern, wenn sich die Und Väter eines Tages wieder in Frauen verlieben? Jean-Paul Dumas-Grillet ist auf der Seite der pragmatischen und lebensklugen Jugend: Die Mädchen sind bereit, mit zwei Vätern, zwei Müttern und zwei biologischen Mütter zusammen zu leben. Dieux les Pères : ein optimistisches, bildstarkes, sehr zeitgemäßes Romandebüt.

Mariette Navarro: Über die See. Aus dem Französischen von Sophie Beese. Antje Kunstmann Verlag, München 2022

Jean-Paul Dumas-Grillet: Dieux les Pères, librinova, 2022

Coup de cœur:
Christophe Boltanski : Die Leben des Jacob, Aus dem Französischen von Tobias Scheffel, 208 Seiten, Carl Hanser Verlag, München (20.03.2023)

Von einem Flohmarktgänger erwirbt eine Pariser Filmproduzentin ein schweres kunstledernes Album. Hineingeklebt sind 369 Passbilder, die ein junger Mann zwischen 1970 und 1974 in einer Fotokabine von sich aufgenommen hatte. Glattes Gesicht, perfekte Zahnreihen, das breite Lächeln wirkt ein bißchen zu gewollt. Schnell wird die Lust des Unbekannten am Rollenspiel augenfällig. Mal mimt er einen Ganoven, mal einen Liebhaber, Elvis mit Tolle so gut wie den melancholischen Buster Keaton oder einen Agenten mit dunkler Brille und Anzug. Eine spannende Geschichte witternd, vertraut die Produzentin dem Journalisten und Schriftsteller Christophe Boltanski das Album an und beauftragt ihn, etwas über den Fremden herauszufinden und ein Filmexposé zu schreiben. Ungeduldig entzieht sie ihm nach einem Jahr den Auftrag. Der Weg zum Buch ist frei.
Die autobiographischen Romane „Das Versteck“ und „Le guetteur“ bezeugen, wie findig, beharrlich und einfühlsam Christophe Boltanski Spurensuche betreibt. Sein Versuch, „von einem Oberkörper ausgehend, ein ganzes Leben rekonstruieren“, beginnt in einem „zwischen Fahrkartenschalter und Rolltreppen“ platzierten Fotoautomaten. Er inspiziert ihn und tritt in einen inneren Dialog mit dem Unbekannten, der seinen Namen, Jacob B’chiri, auf der Rückseite der Fotos hinterlassen hatte und im Falle seines Todes darum bat, die israelische Botschaft in Paris zu kontaktieren. Was nur will der Fremde durch die methodische, zwanghaft wirkende Anhäufung seiner Abbilder ausdrücken – oder verbergen?
Boltanski notiert: „Seine Manie, seinen Namen und sein Gesicht zu sammeln, erzeugte ein merkwürdiges Gefühl von Abwesenheit“. Und die Adressangaben unter den Passfotos, mit Etiketten der israelischen Fluggesellschaft El Al versehen, erwecken den Eindruck eines wirren Durcheinanders. Der Autor rekonstruiert eine komplizierte Route, die in 24 Etappen von Rom nach Paris, Marseille, Lyon, in die Schweiz und nach Israel führt. Zeitweilig hält er es für möglich, dass B’chiri für den israelischer Geheimdienst arbeitete. Boltanski macht Menschen ausfindig, bei denen Jacob B’chiri kurzzeitig wohnte und will verstehen, warum B’chiri, der 1948 auf der tunesischen Insel Djerba geboren wurde, nach dem plötzlichen Tod des Vaters seine Heimat nie wieder aufsuchen wollte.
Christophe Boltanski hat jahrzehntelang als Reporter im Nahen und Korrespondent in London gearbeitet. Er weiß, dass Leser nicht mit Vermutungen abgespeist werden wollen, sondern Fakten verlangen. Gut dosiert unterfüttert er die Schilderung seiner „Schnitzeljagd“ mit Zeitgeschichte. Er findet Jacobs Kinder in Paris und trifft Mitglieder der Familie B’chiri in Israel. Er entdeckt, dass Jacob als Soldat der Golani-Brigade den Sechs-Tage-Krieg 1967 nur knapp überlebt hatte, dass er danach Kunst in Marseille und Architektur in Paris studierte, aber nie etwas baute, sondern Erfüllung fand im schweren Amt der chevra kadisha, der jüdischen Beerdigungsbruderschaft – bis diese ihn entließ und er sich von allen und allem zurückzuziehen begann.
„Das herrenlose Album“, das Christoph Boltanski vor Jahren in die Hände bekam, war für ihn zunächst nichts anderes als eine Todesanzeige. Mit großer Einfühlsamkeit ist es ihm gelungen, ein ganzes, 66 Jahre währendes Leben mit seinen Abgründen und Leerstellen, Verrücktheiten und Glücksmomenten wiedererstehen zu lassen. An uns ist es, sich vorzustellen, was diese Rekonstruktionsleistung dem Autor bedeutet. Kommt er doch aus einer Familie, die dem Tod, wie er sagt, alles verweigerte. Für seine Angehörigen gab es weder einen Trauerzug noch irgendeine Form von Gedenken. Er, der bei den Großeltern aufwuchs, kennt deren Grabstätte nicht. Auf Jacob B’chiris Grabstein in Be’er Sheva hat er Steine legen können.

Épisode 22: Premiers romans: „Ultramarins“ de Mariette Navarro et „Dieux les Pères“ de Jean-Paul Dumas-Grillet

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Épisode 22: Premiers romans: „Ultramarins“ de Mariette Navarro et „Dieux les Pères“ de Jean-Paul Dumas-Grillet
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En 2012, Mariette Navarro, autrice de théâtre et poète, a traversé l’Atlantique sur un cargo. Au bout d’un certain temps, il n’y avait plus d’oiseaux, plus de terre, plus de repères, juste les lumières qui changent. Elle est revenue avec un tas de notes, mais ce n’est que lorsque le personnage d’une capitaine a pris forme dans son esprit qu’elle a eu envie d’inventer une histoire. En 2021 parût son premier roman Ultramarins.
Un équipage de 20 matelots et officiers de marine demande à la capitaine de leur permettre une baignade en mer profonde. À son grand étonnement, elle dit oui. Sa décision va changer la vie de tous et on ne sait pas si les nageurs vont un jour se remettre du vertige existentiel que la plongée a causée ?
„Même si l’on navigue sur la mer depuis des siècles“, explique-t-elle, „il reste toujours quelque chose d’inconnu. Elle suscite des rêves, des fantasmes et des peurs“. Et des désirs. La crédibilité n’est pas un impératif narratif dans ce roman magnifique et d’une grande densité poétique.

Jean-Paul Dumas-Grillet est photographe. Des galeries et des musées exposent ses photos, la Bibliothèque nationale de France lui a acheté des œuvres pour sa collection. Il a également été employé à plusieurs reprises sur des tournages de films. Dans son premier roman Dieux les Pères, Dumas-Grillet évoque de manière ludique des scènes de cinéma, des acteurs et des metteurs en scène réels.
Le personnage principal a échoué au théâtre et sur les plateaux de tournage. Un trac excessif détruit sa carrière prometteuse d’acteur et son mariage. Bob Declerq vit avec sa petite fille en banlieue parisienne. Ce père à temps plein n’a guère d’argent, le quotidien est difficile, jusqu’à ce que tous deux emménagent chez un bon ami qui vit également avec sa fille. Les rôles sont clairement réparti: L’un apporte l’argent, l’autre s’occupe du ménage. Ils fondent „une famille d’un nouveau genre, sans attentes particulières, sans jalousie, sans exigences sexuelles“. Mais le modèle risque-t-il d’échouer quand un jour les pères retombent amoureux de femmes ? Jean-Paul Dumas-Grillet est du côté de la jeunesse pragmatique: Les filles calculent tranquillement qu’elles auraient alors deux pères, deux mères et deux mères biologiques. Convaincant. Dieux les pères : un début ludique, fort en images, très contemporain.

Mariette Navarro: Ultramarins, Quidam éditeur, Paris 2021

Jean-Paul Dumas-Grillet: Dieux les Pères, librinova, 2022

Folge 21: In welcher Sprache werde ich meine eigenen Worte singen? Zu Besuch bei Miléna Kartowski-Aïach in Ein Kerem, Jerusalem.

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Folge 21: In welcher Sprache werde ich meine eigenen Worte singen? Zu Besuch bei Miléna Kartowski-Aïach in Ein Kerem, Jerusalem.
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Miléna Kartowski-Aïach hat Theaterregiekurse in Polen und Dänemark besucht, Religionsphilosophie und Anthropologie studiert. Sie spielt Klavier, sie komponiert und arrangiert, sie singt, sie schreibt. In New York traf sie Frauen, die ihr Zugang verschafften zu den Quellen jiddischer Lieder, die von strenggläubigen, chassidischen Jüdinnen gesungen werden. Zurück in Paris gründete sie die Theatercompagnie Les Haïm und ihr eigenes Ensemble, das Hassidish Project. Mit ihm trat sie 2012 als erste Jiddisch singende Künstlerin im Olympia auf, der ältesten noch existierenden Pariser Music Hall.

Im Sommer 2021 hat Miléna Kartowski-Aïach schließlich eine lebensverändernde Weiche gestellt: Sie hat Frankreich verlassen und ist in Israel eingewandert. Die Gründe dafür sind vielfältig. Der latente und offene Antisemitismus in ihrem Geburtsland ist einer, ihr Verlangen nach einem spirituellen Leben ein anderer.

In Israel stehen ihr Tonarchive offen, in denen sie einem anderorts verleugneten oder bereits ausgelöschtem, auf jeden Fall aber verschlossen gehaltenen kulturellen Erbe nachspürt. Ihre Versuche, in Algerien – dem Geburtsland ihres Vaters – Notate von Liedern in der judäo-berberischen Tradition zu finden, scheiterten bisher. Die Suche führte sie auch nach Marokko, wo gegenwärtig noch etwa 2000 Menschen die Berbersprache Tamazigh sprechen. Mit einigen jungen Leuten hat Miléna vor Jahren Musik aufgenommen.

An einem Nachmittag im Januar 2023 habe ich die junge Sängerin, Theaterautorin und Poetin Miléna Kartowski-Aïach in ihrem Zuhause in Ein Kerem besucht. 

Miléna Kartowski-Aïach:

  • Leros. Un exil insulaire chez les damnés. Oratoire. Sicania, 2019
  • La forêt pour horizon, dans Chimères 2020/2 (N° 97), pages 271 à 274

Moshe Sakal:

  • Achoti, roman, nommé pour le Prix Sapir, Édition Zmora Bitan, 2016
  • The Diamond Setter, roman, Édition Keter, 2014; traduit en anglais par Jessica Cohen, Other Press, New York
  • Yolanda, roman, traduit par Valérie Zenatti. Éditions Stock, Paris 2012

Buchtipp:

David Vogel:

  • Eine Wiener Romanze. Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama. Aufbau, Berlin 2013

Épisode 21: Dans quelle langue chanterai-je mes propres mots? En visite chez Miléna Kartowski-Aïach à Ein Kerem, Jérusalem

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Épisode 21: Dans quelle langue chanterai-je mes propres mots? En visite chez Miléna Kartowski-Aïach à Ein Kerem, Jérusalem
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Au printemps 2016, Miléna Kartowski-Aïach avait été invitée à Berlin pour chanter des chansons yiddish lors d’une lecture de l’autrice américaine Deborah Feldman. Le joueur de Oud, Qaïs Saadi, l’accompagnait sur scène. Six mois plus tard, j’ai revue Miléna à Paris, sa ville natale. Elle venait de rentrer de Leros. Avec des femmes et des enfants yézidis réfugiés, elle avait créé une chorale pour apporter un peu de beauté à ces malheureux qui ne savaient pas combien de temps ils seraient encore retenus sur l’île. Plus tard, elle écrivit l’oratoire Leros. Un exil insulaire chez les damnés.

Miléna a suivi des cours de mise en scène théâtrale en Pologne et au Danemark, elle a étudié la philosophie de la religion et l’anthropologie. Elle joue du piano, elle compose, elle chante, elle écrit. À New York, elle a rencontré des femmes qui lui ont facilité l’accès aux sources de chansons yiddish, chantées par des femmes juives orthodoxes, jamais en public mais en petit groupe, strictement séparé du monde masculin. Ces rencontres et la découverte de chants religieux tenus secrets ont influencé sa carrière de chanteuse. De retour à Paris, Miléna a fondé une compagnie de théatre, Les Haïm, et son propre ensemble, le Hassidish Project. En 2012 elle était la première artiste chantant en yiddish invitée à l’Olympia.

Et puis, en été 2021, Miléna Kartowski-Aïach a fait un choix de vie: Elle a quitté la France pour aller vivre en Israël. Les raisons de ce choix sont multiples. L’antisémitisme latent et offensif dans son pays natal est une raison, son désir d’une vie spirituelle en est une autre.

Miléna est musicienne et poète. En Israël, des archives sonores lui sont ouvertes. Elle y traque un héritage culturel nié ou déjà effacé ailleurs, mais en tout cas maintenu fermé. Ses tentatives de trouver des notes de chansons judéo-berbères en Algérie, le pays natal de son père, ont jusqu’à présent échoué – mais elle ne lâche pas prise.

Lors d’un séjour en Israél janvier 2023, j’ai visité Miléna Kartowski-Aïach chez elle à Ein Kerem.

À découvrir:

Miléna Kartowski-Aïach:

  • Leros. Un exil insulaire chez les damnés. Oratoire. Sicania, 2019
  • La forêt pour horizon, dans Chimères 2020/2 (N° 97), pages 271 à 274

Moshe Sakal:

  • Achoti, roman, nommé pour le Prix Sapir, Édition Zmora Bitan, 2016
  • The Diamond Setter, roman, Édition Keter, 2014; traduit en anglais par Jessica Cohen, Other Press, New York
  • Yolanda, roman, traduit par Valérie Zenatti. Éditions Stock, Paris 2012

Coup de cœur:

David Vogel:

 
 

Folge 20: Verräterkind – Sorj Chalandon beschließt das „große Buch“ des Vaters

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Folge 20: Verräterkind – Sorj Chalandon beschließt das „große Buch“ des Vaters
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Bald drei Jahrzehnte lang hat Sorj Chalandon als Reporter der Tageszeitung „Libération“ Verrat und Lügen aufgedeckt sowie ideologische Kämpfe und Gewaltverbrechen in Kriegsregionen dokumentiert. Seit 2009 ist er Redakteur bei der investigativen und satirischen Wochenzeitung „Le Canard enchaîné“. Verräterkind ist sein zehnter Roman.

Der Roman Die vierte Wand ruft das Massaker wach, das christliche libanesische Milizen am 16. September 1982 im Palästinenserlager Sabra und Chatila verübten. In Rückkehr nach Killybegs verarbeitet Sorj Chalandon die grundstürzende Erfahrung, jahrzehntelang von einem nordirischen Freund manipuliert und benutzt worden zu sein. Der falsche Freund wurde als Informant der britischen Armee und des Geheimdienstes enttarnt und von der IRA hingerichtet. Die „Wunden“, so Chalandon, die der eigene Vater ihm zufügte, hätten so geschmerzt, dass er sie erst im Alter von 63 Jahren schonungslos betrachten konnte: 2015 erschien der tragikomische Roman Profession du père (Mein fremder Vater, dtv 2017). Jean-Pierre Améris hat ihn 2020 mit dem Schauspieler Benoît Poelvoorde in der Rolle des Vaters verfilmt.

Mit Verräterkind hat Sorj Chalandon das Vater-Kapitel nun endgültig abgeschlossen. Der Ich-Erzähler ähnelt dem Autor. Sein Großvater, ein Radikalsozialist, hatte einst ein Urteil gesprochen. Er sagte dem Enkelsohn: „Dein Vater stand im Krieg auf der falschen Seite“ und dass er das Kind eines Dreckskerls sei. Als Erwachsener findet der Sohn heraus, dass sein Vater – im zivilen Leben ein phantasmagorischer Verwandlungskünstler und cholerischer Besserwisser – während des Zweiten Weltkriegs fünf Uniformen getragen hatte: Er hatte mit den Deutschen kollaboriert und sich dem französischen Widerstand angeschlossen.

Sorj Chalandon beobachtete 1987 für die Libération den Prozess, der dem NS-Verbrecher Klaus Barbie in Lyon gemacht wurde. Ein Anklagepunkt war die Deportation der jüdischen Kinder von Izieu. Chalandons Vater saß im Auditorium. Was, fragt sich der Ich-Erzähler des Romans resp. der Autor, verbindet den Vater-Dreckskerl mit dem Gestapochef auf der Anklagebank? Das Buch fördert eine Erkenntnis zu Tage, die schmerzhafter ist als die Summe der Lügen, in die der Vater sich zeitlebens geflüchtet hat. Und es ruft auf ergreifende Weise einen Moment im Leben der 44 ermordeten Kinder wach. Es ehrt ihre Begleiter, es verneigt sich vor den wenigen überlebenden Zeugen im Barbie-Prozess.

Romane von Sorj Chalandon (eine Auswahl):

Die Legende unserer Väter. Aus dem Französischen von Brigitte Große, dtv, München 2012

Rückkehr nach Killybegs. Aus dem Frz. von Brigitte Große, München 2013

Mein fremder Vater. Aus dem Frz. von Brigitte Große, München 2017 

Am Tag davor. Aus dem Frz. von Brigitte Große, München 2019 

Wilde Freude. Aus dem Frz.von Brigitte Große, München 2020

Verräterkind. Aus dem Frz. von Brigitte Große, München 2022

 

Mein besonderer Dank gilt Torsten Föste – der deutschen Stimme von Sorj Chalandon

2019 habe ich für DLF Kultur ein Radiofeature über „Literatur aus den Randgebieten“ geschrieben. Die literarischen Protagonisten sind Sorj Chalandan (Le jour d’avant) und Nicolas Mathieu (Leurs enfants après eux).

Épisode 20: Enfant de salaud – Sorj Chalandon renferme le „grand livre“ du père

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Épisode 20: Enfant de salaud - Sorj Chalandon renferme le "grand livre" du père
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Contrairement à l’Allemagne, il me semble superflu de présenter Sorj Chalandon aux lecteurs/lectrices français.es. En tant que reporter, chroniqueur, rédacteur et contemporain engagé, il est présent dans la vie publique et, avec dix romans à ce jour, il a en outre créé une œuvre littéraire complexe ; une œuvre qui a été récompensée par des prix et nominée à plusieurs reprises pour le Prix Goncourt.

Ce que l’on ressent à la lecture comme dans la conversation avec l’auteur, c’est qu’il incarne ce qu’il écrit et qu’il sait raconter avec sincérité. Il est quelqu’un qui s’investit à fond dans ses sujets et qui sait quelles sont les épreuves qui font grandir ou échouer les hommes, voire les personnages. Il renonce aux observations psychologisantes ou aux classifications, il y a un côté direct qui vous prend immédiatement. Il écrit des dialogues pointus, parfois drôles, il émeut aux larmes parce qu’il regarde de près ce qui fait mal. Il est en colère et dévoile toutes les demi-vérités et les mensonges.

Avec son roman Enfant de salaud, Sorj Chalandon s’est libéré d’un grand fardeau – il a renfermé “le grand livre du père”. Il ne va plus „rouvrir la tombe“ et constate qu’il a dû écrire ce roman autofictionel pour être capable de repartir dans la fiction pure et „d’être quelqu’un d’autre, dans un autre lieu, dans un autre monde“.

Romans de Sorj Chalandon (un choix):

Enfant de salaud. Grasset, Paris 2021

Une joie féroce. Grasset, 2019

Le Jour d’avant. Grasset, 2017

Profession du père. Grasset, 2015

Le quatrième mur. Grasset, 2013

Retour à Killybegs. Grasset, 2011

La légende de nos pères. Grasset, 2009

Folge 19: „Ich bin ein Ort“ – ein Gespräch mit Marina B. Neubert 

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Folge 19: „Ich bin ein Ort“ – ein Gespräch mit Marina B. Neubert 
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Als Kind hat Marina B. Neubert in L’viv gelebt, als Jugendliche in Moskau, als Erwachsene hat sie Wurzeln in Berlin geschlagen. Seitdem sie aber zwei Jahre lang als DAAD-Dozentin an der Hebräischen Universität Deutsche Literatur gelehrt hat, zieht es sie, wann immer möglich nach Jerusalem. Sie arbeitet dort an ihrer Prosa und genießt es, Wortbedeutungen, Klängen und Assoziationen nachzuspüren, die sich in den Zwischenräumen der vielen Sprachen, die Marina B. Neubert spricht, auftun. Ihre Romane Kaddisch für Babuschka und Was wirklich ist zeugen von der Leidenschaft für die Mehrdeutigkeit der Sprache und das jüdisch geprägte Zeitgefühl der Autorin. In der Thora, so Marina B. Neubert,  gebe es weder Vergangenheit noch Gegenwart und Zukunft, und dennoch würden wir mit allen Zeiten konfrontiert. Konsequent verzichtet sie auf ein lineares Erzählen und hinterfragt unsere gewohnten Einordnungen von Ursache und Wirkung.

Jerusalem ist auch der Ort, an dem die 33 Jahre alte Sängerin, Theatermacherin und Lyrikerin Miléna Kartowski-Aïach sich gerade verwurzelt. Im Sommer 2021 hat sie ihre Geburtsstadt Paris verlassen und ist in Israel eingewandert – so wie in den Jahren zuvor tausende andere französische Juden und Jüdinnen, die sich in Frankreich nicht mehr ausreichend gesehen, verstanden und geschützt fühlen. Sie hat Littéramours das Gedicht La larme-prière geschickt.

Copyright der Fotografie: Sharon Adler/Pixelmeer

Bücher von Marina B. Neubert:

Was wirklich ist, Roman, Aviva Verlag, Berlin 2022

Kaddisch für Babuschka, Roman, Aviva Verlag, Berlin 2018

Bella und das Mädchen aus dem Schtetl. Illustrationen Lina Bodén. Ariella Verlag, Berlin 2015

Miléna Kartowski-Aïach: Leros. Un exil insulaire chez les damnés. Oratoire. Sicania, 2019

Sendung im Deutschlandfunk Kultur, 19.10.2021: Heimliche verheimlichte Lieder. Die Pariser Sängerin Miléna Kartowski-Aïach

Épisode 19: „Je suis un lieu“ – un entretien avec Marina B. Neubert 

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Épisode 19: "Je suis un lieu" - un entretien avec Marina B. Neubert 
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Enfant, Marina B. Neubert a vécu à L’viv, adolescente à Moscou, adulte, elle a pris racine à Berlin. Mais depuis qu’elle a enseigné la littérature allemande à l’Université hébraïque en tant que chargée de cours du DAAD, elle se rend à Jérusalem aussitôt que possible. Elle y travaille sa prose et apprécie de traquer les significations des mots, les sons et les associations qui apparaissent dans les interstices des nombreuses langues que Marina B. Neubert parle. Ses romans Kaddisch für Babuschka et Was wirklich ist témoignent de sa passion pour l’ambiguïté de la langue et le sens du temps marqué par le judaïsme. Dans la Torah, dit-elle, il n’y a ni passé, ni présent, ni futur, et pourtant nous sommes confrontés à tous les temps. Marina B. Neubert remet en question de manière conséquente la narration linéaire et nos classifications habituelles de causes et d’effets.

Jérusalem est aussi le lieu où Miléna Kartowski-Aïach, chanteuse, metteure en scène, auteure dramatique et poétesse de 33 ans, est en train de s’enraciner. En été 2021, elle a quitté Paris, sa ville natale, pour immigrer en Israël – comme l’ont fait les années précédentes des milliers de juives et juifs français qui ne se sentaient plus suffisamment vus, compris et protégés en France. Elle nous lit son poème La larme-prière.

Un très grand merci à l’amie Ruth Kinet qui a lu la traduction de l’entretien avec Marina B. Neubert.

Droits d’auteur de la photographie: Sharon Adler / Pixelmeer

Livres de Marina B. Neubert:

Was wirklich ist, Roman, Aviva Verlag, Berlin 2022

Kaddisch für Babuschka, Roman, Aviva Verlag, Berlin 2018

Bella und das Mädchen aus dem Schtetl. Illustrationen Lina Bodén. Ariella Verlag, Berlin 2015

Miléna Kartowski-Aïach: Leros. Un exil insulaire chez les damnés. Oratoire. Sicania, 2019

La forêt pour horizon, dans Chimères 2020/2 (N° 97), pages 271 à 274

Folge 18: „Die Summe des Ganzen“ und „Planet ohne Visum“

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Folge 18: "Die Summe des Ganzen" und "Planet ohne Visum"
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„Die Summe des Ganzen“ und „Planet ohne Visum“

Am 29. September 2022 ist Steven Uhlys Debütroman Mein Leben in Aspik (2010) am Deutschen Theater Berlin als Zwei-Personenstück uraufgeführt worden. Die Akteure sind die Protagonisten eines fiktiven Clans, in dem ein junger Mann eine endlose Reihe sich ins Groteske steigernder Tabubrüche aufdeckt. Hauptsache, alles bleibt in der Familie.

Hauptsache, alles bleibt in der katholischen Kirche, könnte man nach der Lektüre von Uhlys jüngstem Werk sagen. Auch Die Summe des Ganzen kann man sich bestens als Kammerspiel auf der Bühne vorstellen. Es geht in dem Buch um pädophilen Missbrauch, um Schuld und Bußfertigkeit, Obsessionen und Kontrollverlust. Und um die Macht der Worte. Sie erregen und sie können der autosuggestiven Entlastung von kriminellen Taten dienen. Handlungsorte des Romans sind „das Rom der spanischsprachigen Welt“, die Stadt Madrid, und ein Beichtstuhl im Vorort Hortaleza. Eine Art Halbwelt, sagt Uhly, “ein Fegefeuer“.

Torsten Föste liest zwei Passagen aus Steven Uhlys brillant geschriebenem achten Roman.

Jean Malaquais‘ Planet ohne Visum ist ein monumentales Epos über die verzweifelten Versuche von Exilanten, 1942 in Marseille auf ein Schiff zu kommen und Europa lebend zu verlassen. Dass dieses 640 Seiten starke, vergessene Meisterwerk der Exilliteratur nun 75 Jahre nach seiner französischen Erstveröffentlichung erstmals auf Deutsch vorliegt, verdankt sich dem Engagement der Übersetzerin Nadine Püschel und dem Nautilus Verlag.

Geboren wurde der Schriftsteller 1908 in Warschau – als Wladimir Malacki. Mit 17 hatte er genug von der Enge seines säkular-jüdischen Elternhauses. Über Rumänien, die Türkei, Palästina und Ägypten gelangte er Marseille und dann nach Paris. Er hielt sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser, begann zu schreiben und wählte den Künstlernamen Jean Malaquais. Den Zweiten Weltkrieg überlebte Malaquais nach seiner Flucht aus Frankreich in Venezuela, Mexiko und den USA.

Copyright für das Foto von Steven Uhly: Mathias Bothor

Bücher von Steven Uhly (Auswahl):

Die Summe des Ganzen. Secession Verlag für Literatur, Zürich 2022

Finsternis. Secession Verlag für Literatur, Zürich 2020

Den blinden Göttern. Secession Verlag für Literatur, Zürich, Berlin 2018

Glückskind. Secession Verlag für Literatur, Zürich 2012. Michael Verhoeven hat den Roman für das Fernsehen verfilmt. Erstausstrahlung: 21.11.2014 auf Arte.

Mein Leben in Aspik. Secession Verlag für Literatur, Zürich 2010

Jean Malaquais: Planet ohne Visum, Aus dem Französischen von Nadine Püschel, Nautilus Verlag, Hamburg 2022

Épisode 18: „La somme de tout“ et „Planète sans visa“

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Épisode 18: "La somme de tout" et "Planète sans visa"
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„La somme de tout“ et „Planète sans visa“

Le 29 septembre 2022, le premier roman de Steven Uhly, Ma vie en aspic (2010), a été présenté pour la première fois au Deutsches Theater Berlin sous la forme d’une pièce à deux personnages. Les acteurs sont les protagonistes d’un clan fictif. Un jeune homme découvre une série interminable de violations de tabous allant jusqu’au grotesque. L’essentiel est que tout reste dans la famille.

L’essentiel, c’est que tout reste dans l’Église catholique, pourrait-on dire après la lecture du dernier ouvrage d’Uhly. On peut aussi parfaitement imaginer La Somme de tout comme une pièce à deux voix. Le livre traite des abus pédophiles, de la culpabilité et de la repentance, des obsessions et de la perte de contrôle. Et du pouvoir des mots. Ils excitent et peuvent servir à se disculper de manière autosuggestive d’actes criminels. Les lieux de l’action du roman sont „la Rome du monde hispanophone“, la ville de Madrid, et un confessional dans la banlieue Hortaleza. Une sorte de demi-monde, dit Uhly, „un purgatoire“.

Planète sans visa de Jean Malaquais est une épopée monumentale sur les tentatives désespérées d’exilés de monter sur un bateau à Marseille et de quitter l’Europe vivants en 1942. Si ce chef-d’œuvre oublié de la littérature d’exil de 640 pages est désormais disponible pour la première fois en allemand, 75 ans après sa première publication en français, c’est grâce à l’engagement de la traductrice Nadine Püschel et des éditions Nautilus.

L’écrivain est né en 1908 à Varsovie sous le nom de Wladimir Malacki. A 17 ans, il en a eu assez de l’étroitesse de son milieu. Après avoir traversé la Roumanie, la Turquie, la Palestine et l’Égypte, il arrive à Marseille, puis à Paris. Il survit grâce à de petits boulots, commence à écrire, fait la connaissance d’André Gide et choisit le nom d’artiste de Jean Malaquais. Après avoir fui la France, Malaquais a survécu à la Seconde Guerre mondiale au Venezuela, au Mexique et aux États-Unis.

Les romans de Steven Uhly ne sont pas encore traduits en allemand. Voir la liste de ses livres dans l’épisode allemand

Livres de Jean Malaquais (un choix)

Les Javanais, Éditions Denoël, Paris, 1939.

Journal de guerre, Éditions de la maison française, New York, 1943

Planète sans visa, Le pré aux clercs, Paris, 1947

Planète sans visa, Éditions Phébus, Paris, 1999

Correspondance (1935–1950) by André Gide and Jean Malaquais, Éditions Phébus, Paris, 2000