Folge 24: „Was dich spaltet“ – der Debütroman von Bernadette Conrad

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Folge 24: „Was dich spaltet“ - der Debütroman von Bernadette Conrad
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Bernadette Conrad ist ständig in Bewegung. Heute hier, morgen dort. Viele Jahre war Konstanz ein Fixpunkt im Leben der Publizistin und Literaturkritikerin, heute ist Berlin ihr Zuhause. Sie streift offen durch die Welt, sie recherchiert, folgt ihrer Intuition, beobachtet Menschen und Orte, sie sammelt, filtert und publiziert ihre literarisch und zeitgeschichtlich motivierten Suchbewegungen in Form von Zeitungsreportagen und Büchern.

Eine Auswahl ihrer für die ZEIT geschriebenen Reisereportagen und Porträts sind unter dem Titel „Nomaden im Herzen“ als Buch erschienen. 2011 legte Bernadette Conrad das erste biografische Buch über die von Jonathan Frantzen wiederentdeckte US-amerikanische Schriftstellerin Paula Fox (1923-2017) vor. Nachdenklichkeit und die Gabe, behutsam zwischen den Zeilen lesen zu können, so die Erzählerin Judith Herrmann, zeichne Bernadette Conrads Zugang zu Personen aus – hier für die vom Leben hart geprüfte Paula Fox, die fest daran glaubte, dass „Rettung immer unterwegs“ sei.

In Was dich spaltet beschreibt Bernadette Conrad mit feinem Gespür, wann Eltern aufhören, Eltern zu sein und welchen Anteil sie an der Entfremdung und Entzweiung ihrer Kinder haben. Und damit öffnet sie zugleich den Raum für grundsätzliche Fragen: Gibt es ungeachtet von Verletzungen und Zerwürfnissen eine unstillbare Sehnsucht nach familiärem Zusammenhalt? Welchen Preis zahlt man für familiäre Versöhnung? Ist es klüger, das Weite zu suchen? Kann man unversöhnt ein gutes Leben führen? Auf beeindruckende Weise zeigt Bernadette Conrad in ihrem Debütroman, wie ernüchternd und befreiend die Versuche sind, Verästelungen und Weichenstellungen in einer jeden Biographie offenzulegen.

 

Bücher von Bernadette Conrad:

  • Was dich spaltet. Roman. Transit Verlag, Berlin 2023
  • Groß und stark werden. Kinder unterwegs ins Leben. Gespräche mit Cornelia Funke. Btb, München 2019
  • Die kleinste Familie der Welt. Vom spannenden Leben allein mit Kind. Btb, München 2016
  • Die vielen Leben der Paula Fox. C.H. Beck Verlag, München 2011
  • Nomaden im Herzen. Literarische Reportagen. Libelle Verlag, Lengwil 2006

Épisode 24: „Ce qui te divise“ – le premier roman de Bernadette Conrad

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Épisode 24: „Ce qui te divise“ - le premier roman de Bernadette Conrad
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Bernadette Conrad est toujours en mouvement. Aujourd’hui ici, demain là-bas. Pendant de nombreuses années, la ville de Constance a été un point fixe dans la vie de la publiciste et critique littéraire. Aujourd’hui son chez-soi, c’est Berlin.

Quand elle entame un nouveau projet – souvent motivé par la littérature et l’histoire contemporaine – Bernadette Conrad s’investit profondément dans la recherche mais elle sait aussi suivre son intuition et faire confiance à sa capacité de bien observer les hommes et les lieux.

Une sélection de ses reportages de voyage écrits pour l’hebdomadaire DIE ZEIT a été publiée sous forme de livre sous le titre Nomaden im Herzen (Nomades au cœur). En 2011 Bernadette Conrad a été la première à publier un livre biographique sur l’écrivaine américaine Paula Fox (1923-2017), redécouverte par Jonathan Frantzen. Fox, qui depuis son tout bas âge avait une vie difficile, lui enseignait qu’il fallait croire que « le salut est toujours en chemin », voire qu’on peut être sauvé à tout moment.

Was dich spaltet (Ce qui te divise) est le premier roman de Bernadette Conrad. Elle décrit, de manière précise, comment des parents cessent d’être des parents et quelle part de responsabilité ils ont dans l’aliénation et la désunion de leurs enfants. Ce faisant, elle ouvre également la voie à des questions fondamentales : existe-t-il, malgré les blessures et les déchirements, un désir insatiable de cohésion familiale ? Quel est le prix à payer pour une réconciliation familiale ? Vaut-il mieux prendre ses distances ? Peut-on bien vivre sans se réconcilier ? Dans „Ce qui te divise“, Bernadette Conrad montre de manière impressionnante à quel point les tentatives de mettre à jour les ramifications et les aiguillages de chaque biographie sont à la fois désenchantées et libératrices.

Je tiens à remercier mon amie Ruth Kinet d’avoir lu la traduction française des propos de Bernadette Conrad.

Livres de Bernadette Conrad :

  • Was dich spaltet. Roman. Transit Verlag, Berlin 2023
  • Groß und stark werden. Kinder unterwegs ins Leben. Gespräche mit Cornelia Funke. Btb, München 2019
  • Die kleinste Familie der Welt. Vom spannenden Leben allein mit Kind. Btb, München 2016
  • Die vielen Leben der Paula Fox. C.H. Beck Verlag, München 2011
  • Nomaden im Herzen. Literarische Reportagen. Libelle Verlag, Lengwil 2006

Folge 23: Ein paar Wahrheiten über den Indochina-Krieg: „Ein ehrenhafter Abgang“ von Éric Vuillard

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Folge 23: Ein paar Wahrheiten über den Indochina-Krieg: „Ein ehrenhafter Abgang“ von Éric Vuillard
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Die Lektüre der Bücher von Éric Vuillard verändert den Blick auf revolutionäre Bewegungen, auf Kriege und Propaganda, auf die so genannte gute Gesellschaft und den politischen Eifer großbürgerlicher Finanzdynastien. Er erzählt von der aufständischen Kraft, die am 14. Juli 1789 zum Sturm auf die Bastille führte; in „Die Tagesordnung“ (Prix Goncourt, 2017) schildert er ein Geheimtreffen Hitlers mit 24 Industriellen, und in „Traurigkeit der Erde“ verfolgt er den Lebensweg Buffalo Bills, der mit seinen Wild West-Shows den Gründungsmythos eines freien Landes feierte und die unterworfenen amerikanischen Ureinwohner perverserweise zu Statisten in diesem Massenspektakel machte. Éric Vuillard besitzt ein untrügliches, feines Gespür für historische Momente. Er seziert sie ironisch, erstaunt, mitfühlend und immer mit Haltung. Denn er nimmt sich klar das Recht, Begebenheiten nicht nur zu hinterfragen, sondern auch subjektiv zu beurteilen.

Seine jüngste Publikation „Ein ehrenhafter Abgang“ handelt von der Kolonisierung Indochinas und einem Krieg, der nicht zu gewinnen war. Vuillard erinnert an Generäle und Politiker, die das französische Volk jahrelang über die Höhe menschlicher Verluste wie die exorbitanten Gewinne der kriegstreibenden Indochina-Bank täuschten – und er beschreibt die Kapitulation der französischen Truppen am 7. Mai 1954 in der Dschungelfestung Dien Bien Phû. Der Vietnamkrieg war einer der längsten des 20. Jahrhunderts.

Das Schlussbild des Buches ist auf den 29. April 1975 datiert.

„Die Ventilatoren bleiben stehen. Die Kühlschränke bleiben stehen. Die Autos gehen kaputt. Es gibt riesige Friedhöfe voller Kühlschränke, große Nekropolen voller Klimageräte und Pyramiden aus Spülmaschinen. Alles ist tot. Also stürzt man sich auf die letzten Schiffe, die letzten Hubschrauber, die letzten amerikanischen Flugzeuge. Die Piloten selektieren die Passagiere mit der Pistole in der Hand. Ein riesiges Gedränge. (…) Tausende von Menschen, die in Schlauchbooten aufgebrochen waren, ertrinken. Furchtbar, diese überfüllten Boote, die Menschentrauben, die auf den Wellen treiben, die Anhäufungen von Körpern, Paketen, Fahrrädern, Geschrei und Entsetzen. All die Strohhüte! Wie traurig ein Volk doch ist. Man teilt es, man schneidet es von sich selbst ab, die Zeit vergeht, und es kann nur Angst davor haben, sich wiederzufinden, erstickt in der unbarmherzigen Reuse anderer Interessen, die ihm aufgenötigt worden sind.  Oh, du, der angeblich so clevere Kissinger, der Talleyrand des Kalten Krieges, wie lächerlich bist du doch mit deinem entspannten Lächeln, deiner allwissenden Miene, deiner berühmten Brille, durch die du auch nichts gesehen hast. Aber machen Sie sich keine Sorgen, die amerikanische Kolonie und die letzen Franzosen sind evakuiert worden (…) Ach, man muss sie gesehen haben, diese letzten Westler, die während des Falls von Saigon mit dem Hubschrauber auf dem schnellsten Weg vom Dach der US-Botschaft evakuiert wurden. Man muss unbedingt sehen, wie die Diplomaten so gut sie können an der Strickleiter hochklettern. Die Krawatten werden vom Wind erhascht. Die Körper klammern sich an die Sprossen, der Schal fliegt weg. Was für eine Endzeitstimmung, was für ein Debakel! In der lächerlichen Hoffnung auf einen ehrenvollen Abgang hatte es dreißig Jahre und Millionen von Toten gebraucht, und dann endet das Ganze so! Dreißig Jahre für einen solchen Abgang. Vielleicht wäre die Schande besser gewesen.“

Bücher von Éric Vuillard (Auswahl).

Épisode 23: Quelques vérités sur la guerre d’Indochine: „Une sortie honorable“ d’Éric Vuillard

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Épisode 23: Quelques vérités sur la guerre d’Indochine: „Une sortie honorable“ d'Éric Vuillard
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La lecture des livres d’Éric Vuillard change le regard que l’on porte sur les mouvements révolutionnaires, sur les guerres et la propagande, sur la soi-disant bonne société et sur le zèle politique des dynasties financières de la grande bourgeoisie. Il raconte la force insurrectionnelle qui a conduit à la prise de la Bastille le 14 juillet 1789 ; dans L’ordre du jour (Prix Goncourt, 2017), il décrit une réunion secrète d’Hitler avec 24 industriels, et dans Tristesse de la terre, il suit le parcours de Buffalo Bill qui, avec ses spectacles Wild West a célébré le mythe fondateur d’un pays libre tout en traitant les Amérindiens comme des figurants sauvages. Éric Vuillard dépiste des moments historiques. Il les dissèque avec ironie, compassion et avec fermeté. Car il s’arroge clairement le droit de remettre en question la description des événements et des activités politiques, mais aussi de les juger, de manière subjective.

Sa dernière publication Une sortie honorable traite de la colonisation de l’Indochine et d’une guerre qui ne pouvait pas être gagnée. Vuillard évoque les généraux et les politiques qui ont trompé le peuple français pendant des années sur l’ampleur des pertes humaines comme sur les bénéfices exorbitants de la banque belligérante d’Indochine – et il décrit la reddition des troupes françaises le 7 mai 1954 dans la forteresse de la jungle de Dien Bien Phû. La guerre du Vietnam a été l’une des plus longues du 20e siècle.

L’image finale du livre est datée du 29 avril 1975.

« Les ventilateurs s’arrêtent. Les voitures tombent en panne. Il y a des grands cimetières de frigidaires, de grandes nécropoles de climatiseurs de des pyramides de lave-vaisselles. Tout est mort. Alors, on se rue vers les derniers bateaux, les derniers hélicoptères, les derniers avions américains. Les pilotes trient les passagers, pistolet au poing. (…)

Des milliers de gens partis sur des embarcations de fortune périront noyés. C’est terrible ces bateaux surchargés d’hommes, ces grappes humaines qui flottent au gré des vagues, ces amoncellements de corps, de paquets, de vélos, de cris, de stupeurs. Tous ces chapeaux de paille ! C’est si triste un peuple. On le divise, on le coupe de lui-même, le temps passe, et il ne peut que craindre de se retrouver, étranglé dans la nasse impitoyable d’autres intérêts qu’on lui a fait prendre. Ô Kissinger, si futé à ce qu’on raconte, le Talleyrand de la guerre froide, te voici bien ridicule avec ton sourire décontracté, ton air de tout savoir, tes lunettes si célèbres qui ne t’ont rien permis de voir. Mais ne vous inquiétez pas, on a évacué la colonie américaine et les derniers Français (…)

Il faut à tout prix voir ça, ls diplomates montant comme ils peuvent à l’échelle de corde. Les cravates happées par le vent. Les corps s’agrippant aux barreaux tandis que l’échelle s’envole. Quelle atmosphère de fin du monde, quelle débâcle ! Dans l’éspérance dérisoire d’une sortie honorable, il aura fallu trente ans, et des milliers de morts, et voici comment tout cela se termine ! Trente ans pour une telle sortie de scène. Le déshonneur eut peut-être mieux valu. »

Livres d’Éric Vuillard (un choix) :

  • Conquistadors, Éditions Léo Scheer, Paris 2009
  • La Bataille d’Occident, Éditions Actes Sud, Arles 2012
  • Congo. Actes Sud, Arles 2012 – Prix Valérxy Larbaud
  • Tristesse de la terre, Une histoire de Buffalo Bill Cody. Actes Sud, Arles 2014
  • 14 juillet, Actes Sud, Arles 2016
  • L’ordre du jour, Actes Sud, Arles 2017 – Prix Goncourt
  • La guerre des pauvres, Actes Sud, Arles 2019 – shortlist “International Booker Prize”
  • Une sortie honorable, Actes Sud, Arles 2022.

Folge 22: Debütromane: „Über die See“ von Mariette Navarro und „Dieux les Pères“ von Jean-Paul Dumas-Grillet

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Folge 22: Debütromane: „Über die See“ von Mariette Navarro und „Dieux les Pères“ von Jean-Paul Dumas-Grillet
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2012 überquerte die Theaterautorin und Lyrikerin Mariette Navarro gemeinsam mit anderen Autoren und Autorinnen auf einem Containerschiff den Atlantik. Plötzlich keinen Vogelschrei mehr zu hören, das Zeitgefühl zu verlieren und sich nurmehr am Licht, an Helligkeit und Dunkel zu orientieren, beschreibt sie als eine tiefe Erfahrung. Mariette Navarro kam mit Notizen zurück, aber erst als die Figur einer Kapitänin Gestalt in ihrem Kopf annahm, bekam sie Lust, eine Geschichte zu erfinden.
Eine 20-köpfige männliche Crew bittet die Kapitänin, auf hoher See baden zu dürfen. Zu ihrer eigenen Überraschung willigt sie ein und von dem Augenblick an, verändert sich das Leben aller. Fraglich ist, ob die Schwimmenden sich jemals von dem existenziellen Taumel, der sie in tiefem Wasser ergriff, erholen werden? „Selbst wenn man das Meer seit Jahrhunderten besegelt“, so Mariette Navarro, „bleibt es etwas Unbekanntes. Es löst Träume aus, Fantasien und Ängste.“ Und Wünsche. Glaubwürdigkeit ist kein erzählerisches Gebot in diesem wunderbaren, poetisch hochverdichteten Roman.

Jean-Paul Dumas-Grillet ist Fotograf. Galerien und Museen stellen seine Bilder aus, die französische Nationalbibliothek hat Werke für ihre Sammlung angekauft. Immer wieder war er auch bei Filmdreharbeiten beschäftigt. In seinem Debütroman Dieux les Pères erinnert Dumas-Grillet auf spielerische Weise an Kinoszenen, an reale Schauspieler und Regisseure. Die Hauptfigur ist auf der Theaterbühne und am Filmset gescheitert. Übermäßiges Lampenfieber zerstört seine vielversprechende Schauspielerkarriere und die Ehe. Bob Declerq lebt mit seiner kleinen Tochter in einem Pariser Vorort. Der Vollzeitvater hat kaum Geld, der Alltag ist schwierig, bis beide bei einem guten Freund, der ebenfalls mit seiner Tochter lebt, einziehen. Die Rollen sind klar verteilt: Einer schafft das Geld heran, der andere kümmert sich um den Haushalt. Sie gründen „eine Familie der neuen Art, ohne besondere Erwartungen, ohne Eifersucht, ohne sexuelle Ansprüche“. Könnte das Modell scheitern, wenn sich die Und Väter eines Tages wieder in Frauen verlieben? Jean-Paul Dumas-Grillet ist auf der Seite der pragmatischen und lebensklugen Jugend: Die Mädchen sind bereit, mit zwei Vätern, zwei Müttern und zwei biologischen Mütter zusammen zu leben. Dieux les Pères : ein optimistisches, bildstarkes, sehr zeitgemäßes Romandebüt.

Mariette Navarro: Über die See. Aus dem Französischen von Sophie Beese. Antje Kunstmann Verlag, München 2022

Jean-Paul Dumas-Grillet: Dieux les Pères, librinova, 2022

Coup de cœur:
Christophe Boltanski : Die Leben des Jacob, Aus dem Französischen von Tobias Scheffel, 208 Seiten, Carl Hanser Verlag, München (20.03.2023)

Von einem Flohmarktgänger erwirbt eine Pariser Filmproduzentin ein schweres kunstledernes Album. Hineingeklebt sind 369 Passbilder, die ein junger Mann zwischen 1970 und 1974 in einer Fotokabine von sich aufgenommen hatte. Glattes Gesicht, perfekte Zahnreihen, das breite Lächeln wirkt ein bißchen zu gewollt. Schnell wird die Lust des Unbekannten am Rollenspiel augenfällig. Mal mimt er einen Ganoven, mal einen Liebhaber, Elvis mit Tolle so gut wie den melancholischen Buster Keaton oder einen Agenten mit dunkler Brille und Anzug. Eine spannende Geschichte witternd, vertraut die Produzentin dem Journalisten und Schriftsteller Christophe Boltanski das Album an und beauftragt ihn, etwas über den Fremden herauszufinden und ein Filmexposé zu schreiben. Ungeduldig entzieht sie ihm nach einem Jahr den Auftrag. Der Weg zum Buch ist frei.
Die autobiographischen Romane „Das Versteck“ und „Le guetteur“ bezeugen, wie findig, beharrlich und einfühlsam Christophe Boltanski Spurensuche betreibt. Sein Versuch, „von einem Oberkörper ausgehend, ein ganzes Leben rekonstruieren“, beginnt in einem „zwischen Fahrkartenschalter und Rolltreppen“ platzierten Fotoautomaten. Er inspiziert ihn und tritt in einen inneren Dialog mit dem Unbekannten, der seinen Namen, Jacob B’chiri, auf der Rückseite der Fotos hinterlassen hatte und im Falle seines Todes darum bat, die israelische Botschaft in Paris zu kontaktieren. Was nur will der Fremde durch die methodische, zwanghaft wirkende Anhäufung seiner Abbilder ausdrücken – oder verbergen?
Boltanski notiert: „Seine Manie, seinen Namen und sein Gesicht zu sammeln, erzeugte ein merkwürdiges Gefühl von Abwesenheit“. Und die Adressangaben unter den Passfotos, mit Etiketten der israelischen Fluggesellschaft El Al versehen, erwecken den Eindruck eines wirren Durcheinanders. Der Autor rekonstruiert eine komplizierte Route, die in 24 Etappen von Rom nach Paris, Marseille, Lyon, in die Schweiz und nach Israel führt. Zeitweilig hält er es für möglich, dass B’chiri für den israelischer Geheimdienst arbeitete. Boltanski macht Menschen ausfindig, bei denen Jacob B’chiri kurzzeitig wohnte und will verstehen, warum B’chiri, der 1948 auf der tunesischen Insel Djerba geboren wurde, nach dem plötzlichen Tod des Vaters seine Heimat nie wieder aufsuchen wollte.
Christophe Boltanski hat jahrzehntelang als Reporter im Nahen und Korrespondent in London gearbeitet. Er weiß, dass Leser nicht mit Vermutungen abgespeist werden wollen, sondern Fakten verlangen. Gut dosiert unterfüttert er die Schilderung seiner „Schnitzeljagd“ mit Zeitgeschichte. Er findet Jacobs Kinder in Paris und trifft Mitglieder der Familie B’chiri in Israel. Er entdeckt, dass Jacob als Soldat der Golani-Brigade den Sechs-Tage-Krieg 1967 nur knapp überlebt hatte, dass er danach Kunst in Marseille und Architektur in Paris studierte, aber nie etwas baute, sondern Erfüllung fand im schweren Amt der chevra kadisha, der jüdischen Beerdigungsbruderschaft – bis diese ihn entließ und er sich von allen und allem zurückzuziehen begann.
„Das herrenlose Album“, das Christoph Boltanski vor Jahren in die Hände bekam, war für ihn zunächst nichts anderes als eine Todesanzeige. Mit großer Einfühlsamkeit ist es ihm gelungen, ein ganzes, 66 Jahre währendes Leben mit seinen Abgründen und Leerstellen, Verrücktheiten und Glücksmomenten wiedererstehen zu lassen. An uns ist es, sich vorzustellen, was diese Rekonstruktionsleistung dem Autor bedeutet. Kommt er doch aus einer Familie, die dem Tod, wie er sagt, alles verweigerte. Für seine Angehörigen gab es weder einen Trauerzug noch irgendeine Form von Gedenken. Er, der bei den Großeltern aufwuchs, kennt deren Grabstätte nicht. Auf Jacob B’chiris Grabstein in Be’er Sheva hat er Steine legen können.

Épisode 22: Premiers romans: „Ultramarins“ de Mariette Navarro et „Dieux les Pères“ de Jean-Paul Dumas-Grillet

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Épisode 22: Premiers romans: „Ultramarins“ de Mariette Navarro et „Dieux les Pères“ de Jean-Paul Dumas-Grillet
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En 2012, Mariette Navarro, autrice de théâtre et poète, a traversé l’Atlantique sur un cargo. Au bout d’un certain temps, il n’y avait plus d’oiseaux, plus de terre, plus de repères, juste les lumières qui changent. Elle est revenue avec un tas de notes, mais ce n’est que lorsque le personnage d’une capitaine a pris forme dans son esprit qu’elle a eu envie d’inventer une histoire. En 2021 parût son premier roman Ultramarins.
Un équipage de 20 matelots et officiers de marine demande à la capitaine de leur permettre une baignade en mer profonde. À son grand étonnement, elle dit oui. Sa décision va changer la vie de tous et on ne sait pas si les nageurs vont un jour se remettre du vertige existentiel que la plongée a causée ?
„Même si l’on navigue sur la mer depuis des siècles“, explique-t-elle, „il reste toujours quelque chose d’inconnu. Elle suscite des rêves, des fantasmes et des peurs“. Et des désirs. La crédibilité n’est pas un impératif narratif dans ce roman magnifique et d’une grande densité poétique.

Jean-Paul Dumas-Grillet est photographe. Des galeries et des musées exposent ses photos, la Bibliothèque nationale de France lui a acheté des œuvres pour sa collection. Il a également été employé à plusieurs reprises sur des tournages de films. Dans son premier roman Dieux les Pères, Dumas-Grillet évoque de manière ludique des scènes de cinéma, des acteurs et des metteurs en scène réels.
Le personnage principal a échoué au théâtre et sur les plateaux de tournage. Un trac excessif détruit sa carrière prometteuse d’acteur et son mariage. Bob Declerq vit avec sa petite fille en banlieue parisienne. Ce père à temps plein n’a guère d’argent, le quotidien est difficile, jusqu’à ce que tous deux emménagent chez un bon ami qui vit également avec sa fille. Les rôles sont clairement réparti: L’un apporte l’argent, l’autre s’occupe du ménage. Ils fondent „une famille d’un nouveau genre, sans attentes particulières, sans jalousie, sans exigences sexuelles“. Mais le modèle risque-t-il d’échouer quand un jour les pères retombent amoureux de femmes ? Jean-Paul Dumas-Grillet est du côté de la jeunesse pragmatique: Les filles calculent tranquillement qu’elles auraient alors deux pères, deux mères et deux mères biologiques. Convaincant. Dieux les pères : un début ludique, fort en images, très contemporain.

Mariette Navarro: Ultramarins, Quidam éditeur, Paris 2021

Jean-Paul Dumas-Grillet: Dieux les Pères, librinova, 2022

Folge 21: In welcher Sprache werde ich meine eigenen Worte singen? Zu Besuch bei Miléna Kartowski-Aïach in Ein Kerem, Jerusalem.

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Folge 21: In welcher Sprache werde ich meine eigenen Worte singen? Zu Besuch bei Miléna Kartowski-Aïach in Ein Kerem, Jerusalem.
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Miléna Kartowski-Aïach hat Theaterregiekurse in Polen und Dänemark besucht, Religionsphilosophie und Anthropologie studiert. Sie spielt Klavier, sie komponiert und arrangiert, sie singt, sie schreibt. In New York traf sie Frauen, die ihr Zugang verschafften zu den Quellen jiddischer Lieder, die von strenggläubigen, chassidischen Jüdinnen gesungen werden. Zurück in Paris gründete sie die Theatercompagnie Les Haïm und ihr eigenes Ensemble, das Hassidish Project. Mit ihm trat sie 2012 als erste Jiddisch singende Künstlerin im Olympia auf, der ältesten noch existierenden Pariser Music Hall.

Im Sommer 2021 hat Miléna Kartowski-Aïach schließlich eine lebensverändernde Weiche gestellt: Sie hat Frankreich verlassen und ist in Israel eingewandert. Die Gründe dafür sind vielfältig. Der latente und offene Antisemitismus in ihrem Geburtsland ist einer, ihr Verlangen nach einem spirituellen Leben ein anderer.

In Israel stehen ihr Tonarchive offen, in denen sie einem anderorts verleugneten oder bereits ausgelöschtem, auf jeden Fall aber verschlossen gehaltenen kulturellen Erbe nachspürt. Ihre Versuche, in Algerien – dem Geburtsland ihres Vaters – Notate von Liedern in der judäo-berberischen Tradition zu finden, scheiterten bisher. Die Suche führte sie auch nach Marokko, wo gegenwärtig noch etwa 2000 Menschen die Berbersprache Tamazigh sprechen. Mit einigen jungen Leuten hat Miléna vor Jahren Musik aufgenommen.

An einem Nachmittag im Januar 2023 habe ich die junge Sängerin, Theaterautorin und Poetin Miléna Kartowski-Aïach in ihrem Zuhause in Ein Kerem besucht. 

Miléna Kartowski-Aïach:

  • Leros. Un exil insulaire chez les damnés. Oratoire. Sicania, 2019
  • La forêt pour horizon, dans Chimères 2020/2 (N° 97), pages 271 à 274

Moshe Sakal:

  • Achoti, roman, nommé pour le Prix Sapir, Édition Zmora Bitan, 2016
  • The Diamond Setter, roman, Édition Keter, 2014; traduit en anglais par Jessica Cohen, Other Press, New York
  • Yolanda, roman, traduit par Valérie Zenatti. Éditions Stock, Paris 2012

Buchtipp:

David Vogel:

  • Eine Wiener Romanze. Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama. Aufbau, Berlin 2013

Épisode 21: Dans quelle langue chanterai-je mes propres mots? En visite chez Miléna Kartowski-Aïach à Ein Kerem, Jérusalem

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Épisode 21: Dans quelle langue chanterai-je mes propres mots? En visite chez Miléna Kartowski-Aïach à Ein Kerem, Jérusalem
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Au printemps 2016, Miléna Kartowski-Aïach avait été invitée à Berlin pour chanter des chansons yiddish lors d’une lecture de l’autrice américaine Deborah Feldman. Le joueur de Oud, Qaïs Saadi, l’accompagnait sur scène. Six mois plus tard, j’ai revue Miléna à Paris, sa ville natale. Elle venait de rentrer de Leros. Avec des femmes et des enfants yézidis réfugiés, elle avait créé une chorale pour apporter un peu de beauté à ces malheureux qui ne savaient pas combien de temps ils seraient encore retenus sur l’île. Plus tard, elle écrivit l’oratoire Leros. Un exil insulaire chez les damnés.

Miléna a suivi des cours de mise en scène théâtrale en Pologne et au Danemark, elle a étudié la philosophie de la religion et l’anthropologie. Elle joue du piano, elle compose, elle chante, elle écrit. À New York, elle a rencontré des femmes qui lui ont facilité l’accès aux sources de chansons yiddish, chantées par des femmes juives orthodoxes, jamais en public mais en petit groupe, strictement séparé du monde masculin. Ces rencontres et la découverte de chants religieux tenus secrets ont influencé sa carrière de chanteuse. De retour à Paris, Miléna a fondé une compagnie de théatre, Les Haïm, et son propre ensemble, le Hassidish Project. En 2012 elle était la première artiste chantant en yiddish invitée à l’Olympia.

Et puis, en été 2021, Miléna Kartowski-Aïach a fait un choix de vie: Elle a quitté la France pour aller vivre en Israël. Les raisons de ce choix sont multiples. L’antisémitisme latent et offensif dans son pays natal est une raison, son désir d’une vie spirituelle en est une autre.

Miléna est musicienne et poète. En Israël, des archives sonores lui sont ouvertes. Elle y traque un héritage culturel nié ou déjà effacé ailleurs, mais en tout cas maintenu fermé. Ses tentatives de trouver des notes de chansons judéo-berbères en Algérie, le pays natal de son père, ont jusqu’à présent échoué – mais elle ne lâche pas prise.

Lors d’un séjour en Israél janvier 2023, j’ai visité Miléna Kartowski-Aïach chez elle à Ein Kerem.

À découvrir:

Miléna Kartowski-Aïach:

  • Leros. Un exil insulaire chez les damnés. Oratoire. Sicania, 2019
  • La forêt pour horizon, dans Chimères 2020/2 (N° 97), pages 271 à 274

Moshe Sakal:

  • Achoti, roman, nommé pour le Prix Sapir, Édition Zmora Bitan, 2016
  • The Diamond Setter, roman, Édition Keter, 2014; traduit en anglais par Jessica Cohen, Other Press, New York
  • Yolanda, roman, traduit par Valérie Zenatti. Éditions Stock, Paris 2012

Coup de cœur:

David Vogel:

 
 

Folge 20: Verräterkind – Sorj Chalandon beschließt das „große Buch“ des Vaters

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Folge 20: Verräterkind – Sorj Chalandon beschließt das „große Buch“ des Vaters
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Bald drei Jahrzehnte lang hat Sorj Chalandon als Reporter der Tageszeitung „Libération“ Verrat und Lügen aufgedeckt sowie ideologische Kämpfe und Gewaltverbrechen in Kriegsregionen dokumentiert. Seit 2009 ist er Redakteur bei der investigativen und satirischen Wochenzeitung „Le Canard enchaîné“. Verräterkind ist sein zehnter Roman.

Der Roman Die vierte Wand ruft das Massaker wach, das christliche libanesische Milizen am 16. September 1982 im Palästinenserlager Sabra und Chatila verübten. In Rückkehr nach Killybegs verarbeitet Sorj Chalandon die grundstürzende Erfahrung, jahrzehntelang von einem nordirischen Freund manipuliert und benutzt worden zu sein. Der falsche Freund wurde als Informant der britischen Armee und des Geheimdienstes enttarnt und von der IRA hingerichtet. Die „Wunden“, so Chalandon, die der eigene Vater ihm zufügte, hätten so geschmerzt, dass er sie erst im Alter von 63 Jahren schonungslos betrachten konnte: 2015 erschien der tragikomische Roman Profession du père (Mein fremder Vater, dtv 2017). Jean-Pierre Améris hat ihn 2020 mit dem Schauspieler Benoît Poelvoorde in der Rolle des Vaters verfilmt.

Mit Verräterkind hat Sorj Chalandon das Vater-Kapitel nun endgültig abgeschlossen. Der Ich-Erzähler ähnelt dem Autor. Sein Großvater, ein Radikalsozialist, hatte einst ein Urteil gesprochen. Er sagte dem Enkelsohn: „Dein Vater stand im Krieg auf der falschen Seite“ und dass er das Kind eines Dreckskerls sei. Als Erwachsener findet der Sohn heraus, dass sein Vater – im zivilen Leben ein phantasmagorischer Verwandlungskünstler und cholerischer Besserwisser – während des Zweiten Weltkriegs fünf Uniformen getragen hatte: Er hatte mit den Deutschen kollaboriert und sich dem französischen Widerstand angeschlossen.

Sorj Chalandon beobachtete 1987 für die Libération den Prozess, der dem NS-Verbrecher Klaus Barbie in Lyon gemacht wurde. Ein Anklagepunkt war die Deportation der jüdischen Kinder von Izieu. Chalandons Vater saß im Auditorium. Was, fragt sich der Ich-Erzähler des Romans resp. der Autor, verbindet den Vater-Dreckskerl mit dem Gestapochef auf der Anklagebank? Das Buch fördert eine Erkenntnis zu Tage, die schmerzhafter ist als die Summe der Lügen, in die der Vater sich zeitlebens geflüchtet hat. Und es ruft auf ergreifende Weise einen Moment im Leben der 44 ermordeten Kinder wach. Es ehrt ihre Begleiter, es verneigt sich vor den wenigen überlebenden Zeugen im Barbie-Prozess.

Romane von Sorj Chalandon (eine Auswahl):

Die Legende unserer Väter. Aus dem Französischen von Brigitte Große, dtv, München 2012

Rückkehr nach Killybegs. Aus dem Frz. von Brigitte Große, München 2013

Mein fremder Vater. Aus dem Frz. von Brigitte Große, München 2017 

Am Tag davor. Aus dem Frz. von Brigitte Große, München 2019 

Wilde Freude. Aus dem Frz.von Brigitte Große, München 2020

Verräterkind. Aus dem Frz. von Brigitte Große, München 2022

 

Mein besonderer Dank gilt Torsten Föste – der deutschen Stimme von Sorj Chalandon

2019 habe ich für DLF Kultur ein Radiofeature über „Literatur aus den Randgebieten“ geschrieben. Die literarischen Protagonisten sind Sorj Chalandan (Le jour d’avant) und Nicolas Mathieu (Leurs enfants après eux).

Épisode 20: Enfant de salaud – Sorj Chalandon renferme le „grand livre“ du père

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Épisode 20: Enfant de salaud - Sorj Chalandon renferme le "grand livre" du père
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Contrairement à l’Allemagne, il me semble superflu de présenter Sorj Chalandon aux lecteurs/lectrices français.es. En tant que reporter, chroniqueur, rédacteur et contemporain engagé, il est présent dans la vie publique et, avec dix romans à ce jour, il a en outre créé une œuvre littéraire complexe ; une œuvre qui a été récompensée par des prix et nominée à plusieurs reprises pour le Prix Goncourt.

Ce que l’on ressent à la lecture comme dans la conversation avec l’auteur, c’est qu’il incarne ce qu’il écrit et qu’il sait raconter avec sincérité. Il est quelqu’un qui s’investit à fond dans ses sujets et qui sait quelles sont les épreuves qui font grandir ou échouer les hommes, voire les personnages. Il renonce aux observations psychologisantes ou aux classifications, il y a un côté direct qui vous prend immédiatement. Il écrit des dialogues pointus, parfois drôles, il émeut aux larmes parce qu’il regarde de près ce qui fait mal. Il est en colère et dévoile toutes les demi-vérités et les mensonges.

Avec son roman Enfant de salaud, Sorj Chalandon s’est libéré d’un grand fardeau – il a renfermé “le grand livre du père”. Il ne va plus „rouvrir la tombe“ et constate qu’il a dû écrire ce roman autofictionel pour être capable de repartir dans la fiction pure et „d’être quelqu’un d’autre, dans un autre lieu, dans un autre monde“.

Romans de Sorj Chalandon (un choix):

Enfant de salaud. Grasset, Paris 2021

Une joie féroce. Grasset, 2019

Le Jour d’avant. Grasset, 2017

Profession du père. Grasset, 2015

Le quatrième mur. Grasset, 2013

Retour à Killybegs. Grasset, 2011

La légende de nos pères. Grasset, 2009