Folge 38: „Sei mein Zorn“ – Gespräch mit Jérôme Ferrari über seinen Roman „Nord Sentinelle“

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Folge 38: „Sei mein Zorn“ – Gespräch mit Jérôme Ferrari über seinen Roman „Nord Sentinelle“
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2012 habe ich den Schriftsteller Jérôme Ferrari zum ersten Mal getroffen, zu Aufnahmen für eine Radiosendung. Sein Roman „Und meine Seele ließ ich zurück“, Laurent Mauvigniers „Die Wunde“ und Alice Ferneys Buch „Passé sous silence“ über einen geschichtlich bezeugten Attentatsversuch auf den französischen Staatspräsidenten de Gaulle standen im Zentrum einer Sendung über den Algerienkrieg und wie junge Autor*innen 50 Jahre nach der Unabhängigkeit darauf schauen.

Jérôme Ferrari ist in Paris aufgewachsen. Er hat Philosophie studiert und dieses Fach auch mehrere Jahre in Algier unterrichtet. Obwohl der Prix Goncourt, den Ferrari 2012 für seinen Roman „Predigt auf den Untergang Roms“ erhielt, es ihm erlaubt hätte, nur noch literarisch zu schreiben, unterrichtet er weiter.

Weil er sich für die poetischen Facetten der Quantentheorie interessierte, entstand ein Roman, in dem er die politische Naivität des von der Schönheit der Formeln wie der Natur beseelten Physik-Nobelpreisträgers Werner Heisenberg enthüllt. Der Buchtitel „Das Prinzip“ steht für die Entdeckung, dass es keine Permanenz und keine Kontinuität gibt – nur flüchtige Existenzen und unverbundene Ereignisse. Wahrheit lässt sich nur unscharf fassen.

Seit 2017 lebt Jérôme Ferrari wieder fest auf Korsika. Dort entstand der mehrfach preisgekrönte, inzwischen auch verfilmte Roman „Nach seinem Bilde“, in dem Ferrari mit dem blutigen Nationalismus der korsischen Befreiungsbewegung abrechnet. Auch sein jüngstes Werk spielt auf Korsika, selbst wenn der Buchtitel „Nord Sentinelle“ auf eine kleine Insel im Indischen Ozean verweist. Die Bewohner von North Sentinel Island töten jeden, der die Insel zu betreten versucht. Anders als die Sentilenesen sahen alteingesessene korsische Familien in der Beherbergung von Reisenden eher Vorteile. Seit den 1980er Jahren verkauften sie Land, investierten in Ferienwohnungen, eröffneten Restaurants und Läden – und verdienten ein Vermögen. Ferraris neuer Roman spielt in unserer Gegenwart. Er wirft die grundlegende Frage auf, ob es überhaupt eine ehrliche Beziehung zwischen Einheimischen und Reisenden geben kann.

Copyright Fotografie: Mathias Bothor

Bücher von Jérôme Ferrari (eine Auswahl):

Folge 37: „Hochbranden“ – zum 100. Geburtstag von Etel Adnan

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Folge 37: „Hochbranden“ - zum 100. Geburtstag von Etel Adnan
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Im November 2021 starb die amerikanisch-libanesische Künstlerin Etel Adnan. Folge 13 von Littéramours ist ein Requiem: „Fisch am Morgen, Vogel am Abend, Baum den ganzen Tag“, das wollte Etel Adnan sein. Auch Nebel, Wüste, Wasser. Ich habe unsere erste Begegnung, erste Gespräche in Paris dokumentiert.

Am 24. Februar 2025 jährt sich Etel Adnans 100. Geburtstag. 24 Folgen später spricht nun ihre Übersetzerin aus dem Englischen, die Autorin und Kuratorin Klaudia Ruschkowski, über letzte Texte ihrer Freundin und das nicht abreißende imaginäre Gespräch, in das sie immer wieder mit ihr tritt. Zerstörung und Gewalt, die Etel Adnan in ihrem langen Leben erfahren und bezeugt hat, ließen ihre Emotionen „hochbranden“; auch die Liebe zum Marin County in Kalifornien, die Verbundenheit mit poetischen Weggefährten und Farben. Stark war der Wunsch der Künstlerin, das Wort „Ich“ zu beseitigen, zu überwinden.

Copyright Fotografie: Antonio Maria Storch

Bücher von Etel Adnan (eine Auswahl):

  • Hochbranden. Aus dem Englischen von Klaudia Ruschkowski. Edition Nautilus, 2025
  • Die Stille verschieben. Aus dem Englischen und mit einem Vorwort von Klaudia Ruschkowski. Edition Nautilus, 2022
  • Zeit. Aus dem Englischen von Klaudia Ruschkowski. Deutsche Erstausgabe. Edition Nautilus, 2021
  • Sturm ohne Wind. Gedichte – Prosa – Essays – Gespräche. Herausgegeben und mit einem Vorwort von Klaudia Ruschkowski und Hanna Mittelstädt. Edition Nautilus, 2019
  • Gespräche mit meiner Seele. Aus dem Englischen von Klaudia Ruschkowski. Edition Nautilus, 2015
  • Reise zum Mount Tamalpais. Aus dem Englischen von Klaudia Ruschkowski. Edition Nautilus, 2008
  • Die Bücher Nacht (2016) und Jahreszeiten (2012) sind vergriffen.

Folge 36: „Ein Mann ohne Titel“ – Gespräch mit Xavier Le Clerc

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Folge 36: „Ein Mann ohne Titel“ - Gespräch mit Xavier Le Clerc
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Zu den Neuentdeckungen des Merlin Verlags gehört der französisch-algerische Autor Xavier Le Clerc. In Frankreich wurde sein Buch „Un homme sans titre“ mit vier Literaturpreisen ausgezeichnet und schnell in andere Sprachen übersetzt. „Ein Mann ohne Titel“ ist eine bewegende Hommage an den verstorbenen Vater des Autors, der eben nie einen Titel erworben hatte. Er besaß nur den Betriebsausweis des Stahlwerkes, in dem er bis zu dessen Schließung 1993 arbeitete.

Als Homosexueller konnte Xavier Le Clerc nicht in der Provinz bleiben. 20 Jahre lang hatte er, der als Hamid Aït-Taleb geboren wurde, seine Familie nicht mehr gesehen. 2020, der Autor war vierzig Jahre alt und sein Vater 82, sahen sie sich ein letztes Mal. Der Sohn, eines von neun Kindern, beschloss, über das harte Leben seines Vaters zu schreiben und „die Geschichte so vieler Arbeiter sichtbar (zu machen), die Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut haben“.

Le Clerc zeigt sich als jemand, der still, aber entschlossen seinen eigenen Weg geht. Er bedauert, dass französische Muslime für die „identitäre Droge“ Religion empfänglich sind. „Multikulturisten“, die ihm vorwerfen, seine „Wurzeln zu verraten“, betrachtet er als Leute, die „von der Rente der Ressentiments“ leben. Er vergleicht sie mit zwielichtigen Unternehmern, „die ihren Brüdern verwahrloste Baracken vermieten und ihnen dabei auf die Schulter klopfen“.

Trotz aller Entbehrungen und Benachteiligungen habe sein Vater – so Le Clerc im Gespräch – sich nie negativ über Frankreich oder Europa geäußert. Dafür, dass er seinen Kindern keine Ressentiments mitgegeben habe, ist er ihm dankbar.

Bücher von Xavier le Clerc:

  • Ein Mann ohne Titel. Aus dem Französischen von Christiane Kayser. Merlin Verlag, Gifkendorf 2024
  • Cent vingt francs. Roman. Paris, Gallimard 2021
  • De grâce. Roman. JC Lattès, Paris 2008

Buchempfehlung:

  • Walburga Hülk: Victor Hugo. Jahrhundertmensch. Matthes&Seitz, Berlin 2024

Folge 35: „Im Land der Lebenden“ – ein Gespräch mit Déborah Lévy-Bertherat

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Folge 35: „Im Land der Lebenden“ - ein Gespräch mit Déborah Lévy-Bertherat
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Am 26. Januar 1903 wurde Irma Levy in Hamburg geboren. Sie war die jüngste Tochter von Friederike und Elkhan Levy, die seit 1892 ein Altersheim leiteten und für den jüdischen Friedhof in Altona zuständig waren. Das Ehepaar hatte fünf Kinder. Ihr Sohn Kurt ist der Großvater von Déborah Levy-Bertherat. Ihn hat sie nie kennengelernt. An die erste Begegnung mit seinen Schwestern Irma und Edith erinnert sich die Autorin genau. Es war im Sommer 1972, in Israel, im Garten der Großmutter. Déborah war neun Jahre alt.

„Die Nachkommen“, schreibt sie, “stellen keine Fragen. Sie haben Angst, Geister zu wecken, das Messer oder die große Axt der Geschichte in die Wunden ihrer Vorfahren zu stoßen. In Wahrheit fürchten sie vor allem, dass sie selbst durch das, was sie hören, verletzt werden könnten.“ Déborah Lévy-Bertherat hat ihre Großtanten nicht befragt. Doch eines Tages begann sie, Archive und ehemalige Wohnstätten aufzusuchen und familiengeschichtliche Lücken zu füllen. Sie akzeptiert die Möglichkeit, sich mitunter zu irren, und beginnt mit der Arbeit am Buch Sur la terre des vivants / Im Land der Lebenden.

Déborah Lévy-Bertherat lebt in Paris. Sie lehrt Vergleichende Literaturwissenschaft  an der Ecole normale supérieure, hat Bücher von Lermontow und Gogol übersetzt und bislang vier Romane geschrieben. Im November 2024 habe ich die Schriftstellerin zum Gespräch in Paris getroffen.

Bücher von Déborah Lévy-Bertherat:

Link zum Arbeitskreis Stolpersteine und jüdisches Leben in Hamburg,  Hauptkirche Sankt Nikolai

https://www.hauptkirche-stnikolai.de/bildungwissen/kunst-kultur/arbeitskreis-stolpersteine-und-juedisches-leben

 

Folge 34: Man hinterlässt nichts als Spuren – ein Gespräch mit dem Schriftsteller und Journalisten Christophe Boltanski

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Folge 34: Man hinterlässt nichts als Spuren - ein Gespräch mit dem Schriftsteller und Journalisten Christophe Boltanski
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Christophe Boltanski ist Reporter, Essayist und Romancier. Von 1989 bis 2007 war er für die Pariser Tageszeitung Libération tätig und hat in dieser Zeit viele Jahre als Korrespondent in London und Jerusalem gelebt. Für sein Sachbuch über die Minenarbeiter im Ost-Kongo wurde er 2010 mit dem Prix Bayeux-Calvados des correspondants de guerre ausgezeichnet. Fünf Jahre später debütierte er mit dem preisgekrönten Roman Das Versteck – der Geschichte seiner jüdisch-korsisch-bretonischen Familie. 2018 folge Le Guetteur.

Beide Romane sind erkennbar vom Wunsch getragen, das Wahre vom Falschen zu trennen. Christoph Boltanski schreibt mit großer Ernsthaftigkeit und feiner Ironie. Sein Blick auf das Entstehen von Familienlegenden und kollektiven Erzählungen zeugt von Nähe und Freiheit zugleich. Das Versteck und Le Guetteur sind weit mehr als die Memoiren eines Schriftstellers, der den Schein hinterfragt und verborgene, vergessene und manchmal widersprüchliche Details erforscht. Die Zeitgeschichte, der Zweite Weltkrieg, der Algerienkrieg, der Umbruch von 1968 sind präsent.  

Die Rekonstruktion des Lebens eines unbekannten Mannes und die gewaltvolle kongolesisch-belgische Geschichte, die Christoph Boltanski anlässlich eines nächtlichen Besuches des AfrikaMuseum in Tervuren, Belgien, wachruft, sind beeindrückende Bücher – Die Leben des Jacob haben wir gegen Ende unseres Gesprächs gestreift. Der Anlass für unser Treffen am 1. November in einem Pariser Café war ein anderer: Ich habe mit Christophe Boltanski über sein im Mai 2024 in Frankreich erschienenes Buch La fermière tuée par sa vache et autre faits divers gesprochen. Entstanden sind die 10 Reportagen des Bandes zwischen 2018 und 2023.

Copyright des Autorenfotos: Peter-Andreas Hassiepen

Bücher von Christophe Boltanski:

  • La fermière tuée par sa vache et autres faits divers. Paris, 2024
  • King Kasaï. Ma nuit au musée. Paris, 2023
  • Die Leben des Jacob. München, 2023
  • Le guetteur. Roman, Paris 2018
  • Das Versteck. München, 2017
  • Minerais de sang. Les esclaves du monde moderne, Paris, 2012
  • Chirac d’Arabie. Les Mirages d’une politique française (avec Éric Aeschimann), Paris, 2006
  • Bethléem. 2000 ans de passion. (avec Farah Mébarki u. Rémi Benali), Paris, 2000
  • Les Sept Vies de Yasser Arafat. (avec Jihan al-Tahri), Paris, 1997

 

Folge 33: „Nachtzugtage“ – ein Gespräch mit Millay Hyatt

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Folge 33: „Nachtzugtage" – ein Gespräch mit Millay Hyatt
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„Tagsüber macht man Ausflüge, aber nachts reist man“, notierte die finnische Schriftstellerin und Malerin Tove Jansson, und Millay Hyatt stimmt ihr zu. Ihr im August 2024 veröffentlichter langer Reise-Essay „Nachtzugtage“ zeugt von ihrer Leidenschaft für das nächtliche Reisen im Zug und das Erkunden der Orte, an denen sie umsteigen muss, bei Tage. Jeder durch Fahrtverzögerung erzwungene, nicht geplante Umweg wird als zusätzliches Geschenk betrachtet.

Geboren wurde Millay Hyatt in Dallas/Texas. Sie wuchs in der Nähe von Freiburg auf und ist – nach Studien in Ohio, Los Angeles und Paris – seit vielen Jahren als Autorin und Übersetzerin in Berlin zuhause. In ihrem Buch „Nachtzugtage“ schildert sie, wie das Zugfahren innere Prozesse beschleunigt, wie es die „unbekannten Landschaften und fremdartigen Fabeln unserer inneren Geschichten“ entstehen lässt.

Sie erzählt von Reisen quer durch Europa. Moskau ist seit dem russischen Angriff auf die Ukraine kein Zielort mehr. Stattdessen erkundete sie Tiflis und möchte die Fahrt durch Anatolien bis an die Grenze Georgiens nicht missen. In Tunis beschloss sie, künftig „wie die Tunesierinnen, alle Kinder so zu behandeln, als wäre ich ihre Tante oder große Schwester“. In London wachte sie ganz allein im Zug auf einem Abstellgleis auf, und früher einmal – als man die Zugfenster noch aufziehen oder kippen konnte – wehte zwischen Budapest und Berlin Schnee ins Abteil und bedeckte die Füße. Melancholie schleicht sich verlässlich ein, wenn die Zeit bis zur Ankunft in der „Pflanzstätte“ Berlin sich Stunde um Stunde verringert. Das Nachhausekommen lässt sich nicht aufschieben, aber Millay Hyatt weiß, dass der „rollende Rhythmus“ noch ein paar Tage lang im Körper erhalten bleibt. Und schon kann sie von der nächsten Nachtzugreise träumen.

Bücher von Millay Hyatt:

Buchtipp von Gabriele von Arnim: Jon Fosse: Trilogie. Schlaflos / Olavs Träume / Abendmattigkeit. Übersetzt von Hinrich Schmid-Henkel. 208 Seiten. Rowohlt Verlag, Reinbek 2016

Folge 32: „Man vergisst nie, was man ist“ – Gespräch mit der Anthropologin und Schriftstellerin Yasmine Chami

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Folge 32: "Man vergisst nie, was man ist“ - Gespräch mit der Anthropologin und Schriftstellerin Yasmine Chami
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Yasmine Chami hat in Paris Philosophie, Anthropologie und Sozialwissenschaften studiert, 1999 einen ersten Roman veröffentlicht, sie hat in New York gelebt und ist 2001 in ihre Geburtsstadt Casablanca zurückgekehrt. Dort hat sie ein Kunstzentrum geleitet und dann zehn Jahre lang eine eigene Filmproduktionsfirma geführt. Heute unterrichtet Yasmine Chami – und sie schreibt. Fünf Bücher sind bisher von ihr bei Actes Sud in Frankreich erschienen.

Im Zentrum des Gespräches stehen die als Diptychon konzipierten Romane Dans sa chair  / Tief ins Fleisch  und Médée chérie. Der Grundkonflikt: Médée wartet vergeblich auf Ismaïl, den sie auf eine weite Reise begleiten will; so lange, bis ihre Unruhe zur Gewissheit wird. Er hat sie nach 30 Ehejahren verlassen, ohne ein Wort, für eine junge Kollegin. Ismaïl ist Neurochirurg, Médée Bildhauerin.

Den Roman „Médée chérie“ hat Yasmine Chami aus der Perspektive der Verlassenen geschrieben, die, am Boden zerstört, langsam ins Leben zurückfindet, ihren künstlerischen Ausdruckswillen nicht verloren hat und Liebe erfährt. In Tief ins Fleisch erkundet die Autorin, warum Ismaïl den Bruch mit allem herbeiführte, was seinem Leben Halt gegeben hatte. Und von Anfang an wissen wir, dass er beim Versuch, sich ein zweites Leben aufzubauen, scheitern wird.

Bücher von Yasmine Chami:

  • Tief ins Fleisch, Roman, Aus dem Französischen von Claudia Steinitz. Edition Converso, 2024
  • Casablanca Circus, roman, Actes Sud, 2023
  • Dans sa chair, roman, Actes Sud, 2022
  • Médée chérie, roman, Actes Sud, 2018
  • Mourir est un enchantement roman, Actes Sud, 2017
  • Cérémonie, roman, Actes Sud, 2002

Folge 31: Nicht nur individuell und doch einzigartig: die menschliche Stimme. Ein Gespräch mit Maylis de Kérangal

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Folge 31: Nicht nur individuell und doch einzigartig: die menschliche Stimme. Ein Gespräch mit Maylis de Kérangal
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Maylis de Kérangal hat in den Hafenstädten Toulon und Le Havre gelebt, Philosophie, Geschichte und Ethnologie studiert, im Verlag Gallimard gearbeitet und im Jahr 2000 ihren ersten Roman publiziert: „Je marche sous un ciel de traîne“. Zehn Jahre und sechs Bücher später erhielt sie für „Die Brücke von Coca“, nach einem einstimmigen Votum, den renommierten Prix Medicis. Und seither folgte eine Auszeichnung auf die andere. Den wohl größten Erfolg hatte die heute 57 Jahre alte Autorin mit „Die Lebenden reparieren“. 2016 wurde der Roman von Katell Quillévéré verfilmt und in seiner englischsprachigen Übersetzung für den International Man Booker Prize nominiert.

Die Kunst, Szenen aus dem Stand heraus so zu gestalten, dass sie einem unmittelbar plastisch vor Augen stehen, beherrscht Maylis de Kérangal perfekt. Wie sie ihre Lust an der Fiktion mit ihrem ausgeprägten Interesse am Dokumentarischen, am Faktischen verbindet, ist in der französischen Literatur einzigartig. Ein Buch von Maylis de Kérangal zu lesen heißt immer auch, etwas dazuzulernen und den eigenen Wortschatz aktiv zu erweitern. Ihr Interesse am Handwerk, an den Künsten, an den Wissenschaften und der Geschichte ist offenkundig. Sie spürt Verbindungen auf, entdeckt Besonderheiten. Ihre literarische Sprache setzt Gedanken in Gang, sie enthüllt geheime Wünsche und und verborgene Wahrheiten, sie spinnt ein Netzwerk verschiedenster Beziehungen.

In ihrem 2023 von Andrea Spingler ins Deutsche übersetzten Buch „Kanus“ erforscht Maylis de Kérangal das Potential und Ausdrucksspektrum der menschlichen Stimme. Entstanden ist der aus acht Erzählungen bestehende Roman während der Covid-Pandemie.

Ulrike Schneider, Professorin am Institut für Romanische Philologie der Freien Universität Berlin, und Marie Jacquier vom Frankreichzentrum haben Maylis de Kérangal am 4. Juni 2024 zu einer Lesung und einem von mir moderierten Gespräch über den Roman „Kanus“ in die Freie Universität eingeladen.

Copyright für das Foto: F. Mantovani/Suhrkamp Verlag

Bücher von Maylis de Kérangal (Auswahl):

Zwischenruf – Vergesst sie nicht!

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Zwischenruf - Vergesst sie nicht!
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Eine gelbe Schleife um das Handgelenk, um einen Baum oder an ein Brückengeländer zu binden und so Verbundenheit mit abwesenden, vermissten, geliebten Menschen auszudrücken, hat eine lange Tradition. Bei einem Besuch im März hat die in Frankreich und Israel beheimatete Sängerin, Theaterregisseurin, Lyrikerin und Anthropologin Miléna Kartowski-Aïach mir eine Spule mit 32 Metern gelbem Band gegeben und Texte vorgelesen, in denen sie das Leben von vier Geiseln aufscheinen lässt, die seit dem 7. Oktober 2023 von der Hamas festgehalten werden. Ich habe Milénas Stimme aufgenommen.

Die Schlichtheit der biographischen Miniaturen ist bewegend. Das in wenigen Sätzen aufscheinende Wesen und Wirken der ihrer Freiheit beraubten, verletzten und gequälten Frauen und Männer berührt. Hoffen wir, dass sie noch leben. Hoffen wir, dass alle Geiseln befreit werden. Dass das Sterben in Gaza aufhört, in der Westbank, im Norden Israels, im Süden des Libanon. Dass die gewachsenen, von Individuen geknüpften israelisch-palästinensischen Bindungen halten, dass es möglich bleibt, Gespräche zu führen, die sowohl die Geiseln wie auch die Opfer in Gaza, die traumatisierten Israelis wie die verlassenen, unter der Hamas leidenden Palästinenser einschließen.

„Was uns jenseits aller nationalen und religiösen Zuschreibungen verbindet“, sagt der aus Berlin nach Israel zurückgekehrte Musiker und Publizist Ofer Waldman im Gespräch mit der Autorin und Freundin Sasha Marianna Salzmann, „das ist der Schmerz, ist die Trauer um eine Welt, die vorbei ist“.

Platforme: Erschütterungen einer jüdischen Existenz

Sasha Marianna Salzmann und Ofer Waldman: Gleichzeit. Briefe zwischen Israel und Europa. Suhrkamp Verlag 2024

Folge 30: Das schillernde, unvollkommene Leben eines schwarzen Schwans – ein Gespräch mit dem Schauspieler Michael Evers über seinen Roman „Vinck. Jean-Marie Vinck“

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Folge 30: Das schillernde, unvollkommene Leben eines schwarzen Schwans – ein Gespräch mit dem Schauspieler Michael Evers über seinen Roman „Vinck. Jean-Marie Vinck“
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Michael Evers war 23 als er 1969 ans Zürcher Theater am Neumarkt geholt wurde. Er studierte Germanistik, setzte seine Schauspielkarriere an Bühnen in Basel, Köln, Bonn, Hamburg und Berlin fort, nahm Fernsehrollen an und war jahrzehntelang ein viel gefragter Sprecher in Hörspiel-, Feature- und Audiobuchproduktionen. 2016 publizierte er seinen Debütroman Ortsfremde, 2023 den Roman Vinck. Jean-Marie Vinck

Hans Finkelstein wuchs in Wien auf. Sein Vater war als Kleinkind mit den Eltern nach Schanghai fliehen, kehrte nach dem Zweiten Weltkrieg nur widerwillig nach Österreich zurück, schlug dann aber eine Karriere als Diplomat ein. Hans‘ mütterliche Familie konnten sich nach Palästina retten. Seine Mutter wurde Israelin und eine unglückliche Frau in Wien. Hans rebelliert gegen das Schweigen seiner Eltern und Großeltern über die Entbehrungen des Exils, über Verwandte, die in Lagern ermordet wurden, und über Kompromisse, die sie als Rückkehrer eingingen. Sie blieben dienstbar in einer Gesellschaft, die ihre Ressentiments gegen Juden nicht verhehlte. Hans „emigrierte“ nach Paris, französisierte seinen Namen und begann als Modedesigner erfolgreich mit Kleidern Geschichten zu erzählen – bis eine Krise ihn, den Spieler, der die Gabe besitzt, „der jeweils Andere zu sein“, in eine existenzielle Krise stürzt.

Michael Evers verhandelt in seinem Roman Grundfragen: Was macht mich im Kern aus? Wo komme ich her und wo gehöre ich hin? Wo will ich sein? Was habe ich falsch gemacht und was richtig? Welche Fehler lassen sich gutmachen?

Er erzählt von Generationenkonflikten; von Menschen, die ins Exil gezwungen wurden und zurückkommen in ihr Heimatland, das die Vertriebenen nur unwillig aufnimmt; von Kindern, die sich vom Leben der Eltern und Großeltern ausgeschlossen fühlen; von Liebe, Verblendung und Verantwortungslosigkeit, von den Versuchen, umzukehren, vom Scheitern, vom sich aussöhnen mit dem, was man ist. „Am Ende“, so Michael Evers im Gespräch, „bleibt Vinck nichts anderes übrig, als zu sagen, so war es, so ist es passiert und mich da jetzt noch einmal einzubringen, das führt zu keinem Ziel“. Dem Theatermacher und Menschenkenner George Tabori fühlt er sich verbunden und Samuel Beckett, der wusste, dass wir fortwährend „ scheitern, immer scheitern, wieder scheitern, besser scheitern“.

Bücher von Michael Evers:

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