
Am 9. Oktober 2019 – an Yom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag – scheiterte ein junger Mann daran, die Synagoge in Halle zu stürmen und alle darin im Gebet versammelten Juden und Jüdinnen zu töten. Er erschoss eine Frau auf offener Straße und einen jungen Mann in einem Döner-Imbiss. Auf der Flucht verletzte er ein Paar schwer. Im September 2021 veröffentlichte die Schriftstellerin Esther Dischereit das Buch Hab keine Angst, erzähl alles! Es ist ein Dokument, in dem die Stimmen der Überlebenden der Attentate, Gerichtsprotokolle, Reden der Anwälte, Interviews und Porträts einzelner Nebenkläger abgedruckt sind.
In Folge 9 von Littéramours (September 2021) spricht Esther Dischereit über die tief empfundene Verpflichtung, das, was geschehen ist, zu beschreiben. Um seiner selbst willen. Das Dokument muss da sein, weil erinnert werden muss.“
In der Zwischenzeit hat der schottische Dichter Iain Galbraith Esther Dischereits Blumen für Otello – ein Libretto über die rassistischen Verbrechen des NSU – ins Englische übersetzt. Es erschien der deutsch-italienische Gedichtband Als mir mein Golem öffnete / Quando il golem mi apri la porta und der Poetry-Film Bergpfirsich. Esther Dischereit wurde mit dem Alfred Gruber-Preis für Lyrik ausgezeichnet. In Frankfurt a/M. ist ihr Theaterstück Der Verdacht uraufgeführt worden. Das Museum für Verkehr und Technik in Berlin war die erste Station einer Wanderausstellung, mit der Dischereit den Reichsbahnarbeiter Franz Kittel würdigt. Er rettete ihre während des Zweiten Weltkriegs verfolgte, von vielen Helfern abhängige Mutter und ältere Schwester. Der Filmemacher Gerhard Schick hat die Spurensuche von Esther Dischereit und Mitgliedern ihrer Familie sowie den Kindern und Enkelkindern von Fritz Kittel dokumentiert.
Über Esther Dischereits jüngste Publikation, den Roman Ein Haufen Dollarscheine, schrieb Elfriede Jelinek: „Dieses Buch ist schwer und leicht zugleich, das ist eine große Kunst“. Im Frühjahr 2025 stand der Roman auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse. Jetzt liest ihn auch die Jury für den Deutschen Buchpreis, der zum Auftakt der Frankfurter Buchmesse verliehen wird.
In Berlin hat die französische Germanistin Alice Lacoue-Labarthe damit begonnen, Ein Haufen Dollarscheine ins Französische zu übersetzen. Derzeit arbeitet sie als Doktorandin am Centre Marc Bloch. Wir haben uns zum Gespräch über Esther Dischereits Roman getroffen.
Bücher von Esther Dischereit (eine Auswahl)
- Ein Haufen Dollarscheine. Maro Verlag, Augsburg 2024
- Hab keine Angst, erzähl alles! Das Attentat von Halle und die Stimmen der Überlebenden. Herder Verlag, Freiburg, 28.09.2021
- Mama, darf ich das Deutschlandlied singen. Politische Texte. Mandelbaum Verlag, Wien-Berlin, 2020
- Sometimes a Single Leaf. Ausgewählte Gedichte / Selected Poems Translated & introduced by Iain Galbraith. Arc Publications, Todmorden, UK, 2020
- Garz Literarische Feldforschung. Ein Dorf in Sachsen-Anhalt, Deutschland. Studierende des Instituts für Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst, Wien, Mitteldeutscher Verlag, Halle, 2017
- Großgesichtiges Kind / The Child With The Big Face, ins Englische übertragen von Iain Galbraith. Walter de Gruyter, Edition: ‚angewandte, Berlin/ München/ Boston 2015
- Die Mauern waren dick hier. Partikel vom Großgesichtigen Kind. Komposition und Gitarre: Frank Wingold, SWR Tandem Esther Dischereit und Marcus Meyer, 2. Juni 2015
- Blumen für Otello. Über die Verbrechen von Jena. Klagelieder // Otello için Çiçekler. Jena Cinayetlerine Dair. Ağitlar, in deutscher und türkischer Sprache. Aus dem Deutschen übersetzt ins Türkische von Saliha Yeniyol. s.edition im Secession Verlag für Literatur, Zürich 2014. Das Buch wird 2022 bei Seagull Books auf Englisch erscheinen.
- Vor den Hohen Feiertagen gab es ein Flüstern und Rascheln im Haus.//Before the Holy Days the House Was Full of Whisperings an Rustlings. Dülmen Eichengrünplatz. Gedichte. AvivA, Berlin, 2009
- Der Morgen an dem der Zeitungsträger. Erzählungen, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2007
- Joëmis Tisch. Eine jüdische Geschichte, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1988